Perfektionismus – Wie können denn 90% gut genug sein?

Manche sehen Deutschland als ein Land von Perfektionisten. Angeblich sind 2/3 der Deutschen Perfektionisten. Die Hälfte davon funktionabel – sie können also gut damit umgehen. Die andere Hälfte nicht so sehr. Diese Gruppe leidet darunter und wird unter Umständen dadurch sogar krank.

Perfektionisten als Führungskraft und Entscheider

Im Rückblick kann ich gar nicht sagen, ob ich mich zu der Gruppe zähle, die unter dem Perfektionismus gelitten oder davon profitiert hat. Ich schätze beides. Perfektionisten sichern alles ab, antizipieren Probleme, die andere gar nicht kommen sehen und liefern in der Regel sehr hohe Qualität in ihrer Arbeit ab. Für meine Karriere waren dies entscheidende Pluspunkte, ohne die ich sicher nicht so weit gekommen wäre.

Für mich als Manager und Entscheider war der Perfektionismus eher hinderlich. In der heutigen Welt sind die Dinge oft sehr komplex, verändern sich schnell und sind nicht mehr gut vorhersehbar. Das ist ein schwieriges Umfeld für Menschen, die jede Entscheidung mehrfach absichern und keine Fehler machen wollen. Ich hätte mir damals gewünscht, öfter aus dem Bauch heraus oder nach kurzer Analyse, schnell entscheiden zu können. Aber so einfach ist das nicht, wenn man Risiken eher vermeiden will.

Und für mich als Führungskraft war der Perfektionismus schon eine richtige Herausforderung. Mir wurde erst nach meinem Burnout bewusst, welche Ausstrahlung ich als perfektionistischer Vorgesetzter auf meine Mitarbeiter gehabt haben musste. Die hohen Ansprüche hat man ja nicht nur an sich selbst, sondern auch an seine Mitarbeiter. Nur allzu oft werden solche Vorgesetzte zu Kontroll-Freaks und Detailmanagern. Es wirkt nicht gerade vertrauensvoll, wenn der Vorgesetzte alle Details kontrolliert und verbessert. Wer sich selbst keine Fehler erlaubt, hat auch Schwierigkeiten damit, wenn die Mitarbeiter Fehler machen. Gute Vorgesetzte sind jedoch in der Lage, ihren Mitarbeitern zu vertrauen und sie ihre eigenen Fehler machen zu lassen. Daran wachsen sie und können ihr eigenes Profil aufbauen.

Zudem sollten wir uns als Führungskraft immer bewusst machen, wie wir als Vorbild auf unsere Mitarbeiter wirken. Fakt ist, dass die Mitarbeiter sich nach deinem Verhalten ausrichten werden. Ist Kontrolle und Fehlermeidung dein oberstes Gebot, dann werden auch die Ebenen unter dir so geführt.

 

Nach dem Burnout

Es kommt aber noch ein ganz entscheidender Effekt des Perfektionismus hinzu: Es kostet wahnsinnig viel Energie, sich nach allen Seiten abzusichern, immer einen Plan B zu haben und jedes mögliche Problem schon gelöst zu haben, bevor es überhaupt auftaucht. Heute weiß ich, dass der Perfektionismus damals sehr zu meinem Burnout 2011 beigetragen hat. Die Energie war einfach komplett auf dem Nullpunkt – nichts ging mehr.

In der Zeit danach haben sich viele Dinge in meinem Leben verändert. Ein ganz wichtiger Punkt dabei war: Ich musste nicht mehr vorgeben, ohne Schwächen zu sein. Mein unbewusstes Ziel war es bis dahin, das Image eines fehlerfreien und perfekt funktionierenden Menschen zu repräsentieren.  Eine Fassade, die ich nach meinem Burnout nicht mehr aufrechterhalten musste, denn es war ja jetzt offiziell, dass ich nicht „perfekt funktionierte“. Kaum zu glauben, aber dadurch wurde mir ein Riesendruck von den Schultern genommen. Ich hatte „Schwäche“ gezeigt und das war gut so, denn von da an konnte ich mich viel offener gegenüber anderen verhalten. So funktioniert übrigens Vertrauen: Machst du dich verwundbar, erkennt das dein Gegenüber als Zeichen des Vertrauens und wird ebenfalls offen sein. Daraus erwächst beiderseitiges Vertrauen. Ich habe das immer und immer wieder so erfahren.

Auch als Führungskraft habe ich von meinen Burnout und der 5-monatigen Auszeit sehr profitiert. Ich hatte gelernt, dass sich die Welt auch ohne mich weiterdreht. Ich musste nicht in allen Vorgänge involviert sein und bei jeder Entscheidung meine Finger im Spiel haben. So wurde es für mich leichter, die Dinge einfach mal laufen zu lassen und nur einzugreifen, wenn es wirklich notwendig war. Ich fing damals an, mehr als Coach zu agieren – also die Mitarbeiter zu unterstützen, selbst die Lösungen zu finden.  Auch wenn es anfangs der schwierigere Weg war, da ich ja die Lösung bereits kannte – zumindest glaubte ich das. Auch Perfektionisten können lernen, dass man nicht alles selbst machen muss, damit es richtig wird. Ich zumindest konnte zunehmend meine coachende Rolle genießen.

 

Ein bisschen Ursachenforschung

Was soll denn nun überhaupt schlecht daran sein, perfekte Arbeit abgeben zu wollen? Ist es ja nicht – zumindest nicht, wenn du Herzchirurg oder Pilot bist. Gewissenhaft eine Arbeit mit höchster Qualität zu verrichten ist völlig in Ordnung – wenn es die Sache erfordert.

Für den Perfektionisten geht es hier aber um etwas anderes. Er möchte sich mit allen Mitteln davor schützen, Kritik für eine scheinbar ungenügende Arbeit zu bekommen. Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben und die damit verbundene gefühlte Abwertung gilt es unbedingt zu vermeiden. Wir Perfektionisten sind oft auch nicht gerade mit übergroßem Selbstwertgefühl gesegnet und da tut Kritik besonders weh. Denn die Kritik wird ja sofort persönlich genommen.

Oftmals entsteht der Perfektionismus im Kindesalter. In dieser Lebensphase manifestieren sich wahrgenommene Erwartungshaltungen der Eltern sehr schnell als Glaubenssätze, die dann ein ganzes Leben lang Gültigkeit haben. Auch wenn sie in der Gegenwart eigentlich keinen Nutzen mehr haben. „Sei perfekt“ ist so ein Glaubenssatz. Du kannst ja einmal den Antreibertest nach Rüttinger machen. Geht schnell und zeigt dir deine inneren Antreiber auf.

Und wie wirken Perfektionisten eigentlich auf das Umfeld? „Perfektion schafft Aggression“ – ein Zitat von Dr. Reinhard K. Sprenger. Klingt erstmal merkwürdig, macht aber viel Sinn, wenn Du darüber nachdenkst. Wenn du immer perfekt rüberkommst, kann sich dein Gegenüber minderwertig und unterlegen fühlen. Bestenfalls nötigt Perfektion deinen Kollegen und Mitarbeitern Respekt ab – Sympathie fördert sie nicht. Also: wer Fehler macht, wirkt menschlich und öffnet damit Türen.

 

Einfach mal probieren….

Zum Abschluss noch ein paar Gedanken, die mir geholfen haben, mit meinem Perfektionismus besser umgehen zu lernen. (Diese Gedanken kannst du natürlich auch für deine perfektionistischen Mitarbeiter im Coaching einsetzen.)

  • Mein Chef sagte nach meinem Burnout zu mir: 90% von Dir sind mir lieber als 120% von den meisten anderen. Glaube es einfach: Die Qualität deiner Arbeit ist ohnehin so hoch, dass du dir die letzten 10% an Aufwand sparen kannst. Dazu eine Übung: Setze dir eine bestimmte Zeit, die dich eine Aufgabe kosten soll. Sagen wir 30 Minuten für das Schreiben eines Berichtes. Dabei solltest du versuchen, schon knapp zu kalkulieren. Nach den 30 Minuten höre auf jeden Fall auf und schicke den Bericht ab. Meine Erfahrung mit dem Perfektionismus ist, dass man gut und gerne noch einmal 30 Minuten investiert, aber an der Qualität sich im Grundsatz nichts mehr ändert. Du sagst bestimmt auch, dass du unter Druck am effizientesten bist – genau! Dann wird nach 30 Minuten auch alles Wichtige in dem Bericht drinstehen – passt. Mache Dir bewusst: Als Perfektionist wirst du nach 30 Minuten keinen Bockmist abgeben, auch wenn es sich so anfühlt. Das geht bei dir gar nicht.
  • Kopf hoch: Immer mal wieder ein Blick auf die ToDo-Liste werfen. Da warten noch eine ganze Menge anderer Aufgaben auf dich. Vielleicht beendest du jetzt doch besser die aktuelle Aufgabe bei 90%.
  • Es ist prima, wenn du mit voller Konzentration und Gewissenhaftigkeit eine Aufgabe ausführst. Versuche, den Punkt zu erkennen, an dem der Fokus von „Qualität der Sache wegen“ umschlägt in „Perfektion zur Vermeidung von Kritik“.
  • Du willst unbedingt Fehler vermeiden, um nicht bei deinem Gegenüber an Wertschätzung zu verlieren. „Vielleicht mag mich die Person dann nicht mehr“. Aber stell dir vor, du hättest für alle erfolgreichen und positiven Dinge, die du für dein Gegenüber schon geleistet hast, eine Münze als Guthaben auf ein Konto eingezahlt. Nehmen wir dann an, dass du tatsächlich mal einen Fehler begehst. In dem Fall hebst du gerade mal eine Münze von deinem Guthaben ab und hast immer noch einen Haufen auf dem Konto. Warum sollte diese Person dich auf einmal nicht mehr wertschätzen?
  • Der Perfektionismus hat ja auch seine guten Seiten. Z.B. ist es sinnvoll in einem Team perfektionistisch veranlagte Mitarbeiter zu haben. Sie sorgen dafür, dass die Details genug Beachtung finden und dass das Projekt realisierbar bleibt. Und wenn es mal ein bisschen zu sehr ins Detail geht, dann langt ein liebevoller Hinweis von den Kollegen. Sei ein bisschen nachsichtig mit deinem Perfektionismus – er leistet dir auch gute Dienste.

 

Letztendlich hilft es sicherlich am meisten, wenn Du dir einmal die unterliegenden Glaubenssätze ansiehst, die für deinen Perfektionismus verantwortlich sind. Meine liebe Kollegin Wibke Regenberg und ich haben u.a. zum dem Thema Perfektionismus eine Folge in unserem Podcast „Manager-im-Burnout“ aufgenommen. Höre gerne einmal rein. Dort reden wir auch über das Thema Glaubenssätze.

Denk immer dran: Du wirst immer noch wertgeschätzt, auch wenn du mal kritisiert wirst.

Dieser Bericht wurde auch in der Ausgabe 03/2021 der Finanzwelt gedruckt. Hier ein Link zur Online Version der Zeitung: Perfektionismus.


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