Ein Leben aus der Mitte heraus führen

Ich war gerade in einer Phase, in der es mir nicht gut ging. Unsere Firma war zum dritten Mal von einer Private Equity Firma übernommen worden. Ich gehörte zum Vorstand meiner Firma und bekam einen neuen CEO zum Vorgesetzten. Der Druck war enorm, denn durch die teure Firmenübernahme waren die Erwartungen an die zu liefernden Ergebnisse extrem hoch. Es gab „zero tolerance“ bei Nicht-Erreichen der finanziellen Ergebnisse.

In dieser Phase las ich einen Artikel im „Focus“. Es ging um eine Diskussion von Lebensentwürfen zwischen einem Pastor und einem Investment Banker. In dem Artikel sagte der Pastor so etwas wie: „Ich führe ein Leben aus meiner Mitte heraus. Ich kann immer zu- und nachgeben, aber ich komme immer wieder in meine Mitte zurück.“ Das hat mich damals direkt angesprochen, denn ich hatte klar das Gefühl, dass ich mich überhaupt nicht in meiner Mitte befand – auch wenn ich nicht wusste, wo genau die ist.

Wenn mich mein Coach damals fragte, was mein größtes Ziel sei, dann war es in der Phase vor allem: „Ruhe im Kopf“ zu haben. Sich nicht ständig unter Druck fühlen. Wenn man die Augen zumacht, nicht in Gedanken sofort auf das zurzeit drängendste Problem in der Firma springen. Nicht nachts aufwachen und erst wieder mit großer Verzögerung einschlafen – wenn überhaupt. Einfach nur Ruhe im Kopf.

Da ich schon 2011 einen Burnout erlebt hatte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt im Jahre 2018, dass ich mit Volldampf wieder darauf zu lief. Die damalige Burnout-Erfahrung hat mir sehr geholfen, mich gegen alle inneren Widerstände zu überzeugen, dass ich meinen Job aufgeben musste.  Aber das ist eine andere Geschichte (Ich muss aufhören).

Nachdem ich aufgehört und mir dann erstmal eine Auszeit verordnet hatte, merkte ich erst, wie leer der Akku wirklich war. Ich brauchte ein halbes Jahr, bis ich so langsam wieder den Drang verspürte, etwas Neues anzugehen. Die Ruhe im Kopf hatte ich mittlerweile tatsächlich. Das war auf der einen Seite ein große Erleichterung. Auf der anderen Seite machte sich nun langsam eine gewisse Unruhe und Leere breit. Meine Tage waren irgendwie ausgebucht, aber dennoch fehlte etwas.

Ich arbeitete damals mit einer Heilpraktikerin zusammen, die mir ein schönes Bild darlegte: „Du redest davon, dass du in deine Mitte kommen willst. Das eine Extrem der Hyperaktivität und des Drucks hast du ja ausgiebig kennengelernt. Wie willst du denn wissen, wo die Mitte ist, wenn du die andere Seite der völligen Entspannung nicht genauso erlebt hast?“

Tatsächlich war es ganz wichtig, diese Seite kennenzulernen, um sich eine Position der Mitte zu erarbeiten. Mittlerweile habe ich eine Balance erreicht, von der aus ich auch mal bei einem Projekt wieder ordentlich „hinlangen“ kann. Ich habe ein Gefühl dafür entwickelt, wann ich wieder eine Korrektur brauche, um mich nicht zu weit von der Mitte zu entfernen. Diese Perspektive hatte mir total gefehlt.

 

Wie merke ich, dass ich nicht in meiner Mitte bin ?

Um zu verstehen, wie ich aus der Mitte rausgerutscht bin in all den Jahren, hat mir ein Bild ganz gut geholfen, das ein Arzt mir einmal aufgezeigt hatte. Wir starten den Tag auf einem gewissen Energieniveau. Über den Tag hinweg bestimmen die Dinge, die wir tun, darüber, ob wir Energie verbrauchen oder Energie gewinnen. In der Summe der Aktivitäten verlieren wir über den Tag schon ein ordentlichen Teil der Energie. Guter Schlaf hilft uns dann, am nächsten Morgen wieder ausgeruht auf einem ähnlichen Energieniveau zu starten wie am Tag zuvor. Schwierig wird es mit der Energie, wenn ich den ganzen Tag nur mit Aktivitäten beschäftigt bin, die mir Energie absaugen und mich kaum mit Dingen beschäftige, die mir Energie zuführen. Oder wenn ich nachts nicht erholsam genug schlafe, um meine Energiereserven wieder aufzufüllen. Oder schlimmstenfalls beides zusammen.

Ich hatte damals einen relativ einfachen Test gemacht, um festzustellen, welche Aktivitäten am Tag energieverbrauchend waren und welche energiespendend. Wir benutzten dazu den O-Ring-Test (Google mal – das ist faszinierend!). So sind wir die Liste von vielleicht 20 Aktivitäten, denen ich üblicherweise im Alltag nachging, mit dem O-Ring Test durchgegangen. Die Ergebnisse waren zum Teil sehr überraschend. Dinge, von denen ich glaubte, dass sie energiespendend waren, stellten sich als das Gegenteil heraus, z.B. meinen Sport ausüben. Wiederum waren andere Dinge, die ich für sehr anstrengend hielt, als Energiespender anzusehen, z.B. schwierige Mitarbeitergespräche.

Wie wir das auch immer rausfinden – ob durch gute Intuition oder solche Tests, wichtig ist, dass wir uns über unseren Energiehaushalt bewusst werden. Wenn der dauerhaft aus der Balance gerät, dann kann es problematisch werden.

Ich habe auch mit einem Heilpraktiker gearbeitet, der in der Lage ist, den Energielevel in meinem Körper zu messen. Dazu misst er mithilfe einer Hitzequelle die Empfindlichkeit meiner Meridian-Endpunkte an Händen und Füssen. Die Zeit, die vergeht, bis ich die Hitzequelle spüre, sagt etwas über meinen Energielevel auf verschiedensten Ebenen aus. Ich habe am Anfang der Auszeit zum Teil überhaupt nicht gemerkt, dass er ein paar Millimeter über meinen Fingern mit einem glühenden Räucherstäbchen unterwegs war, so blockiert waren die Energiebahnen.

 

Was ist wichtig ?

Ich führte offensichtlich ein Leben, dass überhaupt nicht in der Balance war. Mir das einzugestehen, war erstmal ganz wichtig. Dazu halfen mir als Kopfmenschen durchaus solche Tests, die doch einen sichtbaren Beweis dafür boten, dass es mir nicht gut ging. Das hat geholfen, Abstand zu nehmen von Glaubenssätzen wie: „Du darfst keine Schwäche zeigen“, „das macht man so“, „das geht anderen auch so“. Stattdessen wurde mir klar: „Was ich hier mache ist gefährlich und nützt keinem Menschen“. Denn wenn man so aus der Balance gerät, dann sind schwere Krankheiten nicht mehr weit.

Mein Bild heute ist, dass ich nur in meiner Mitte ankomme, wenn ich aus einer Position der Balance handeln kann. Am Ende meiner Karriere war aber deutlich, dass ich nur noch Energie verlor und kaum noch zugewann. Ich war in einer Rolle gefangen, die ich im Prinzip gar nicht einnehmen wollte. Mit der Ruhe im Kopf kam dann auch irgendwann die Frage nach einer sinnhaften Gestaltung der Zukunft. Wenn man so will: das Finden der Berufung.

Ich glaube, dass man seine Mitte erreicht, wenn man die Balance hat, sich mit Sinn stiftenden Dingen beschäftigt und viel Achtsamkeit in seinen Tag einfließen lässt.


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